Johann Heinrich Barth. GEN-ROM’s, Bücher und andere Dienste

Meine Großmutter hatte ein reliefartiges (gepresstes) Lederalbum und einen Karton in dem sie zusätzlich ihre Fotografien aufbewahrte. Das wuchtige Album, welches sie uns Enkel immer bei jeder Gelegenheit zeigte war ihr Ein und Alles, ein dickes sperriges längliches Buch. So eine Art Ordner mit dicken schwarzen Kartonseiten und darüber mit der Seite verbunden so eine Art vorgefertigtes Passepartout in denen die alten Pappfotografien hineingeschoben wurden. Zwischen den Kartons lagen noch durchsichtige Trennblätter um die Fotos zu schützen.

 

Ihr anderer Aufbewahrungsort war ein Schuhkarton voller loser Fotografien aus mehreren Epochen, Fotografien auf Glas, Schwarzweißfotografien auf dickem Karton, einfache Fotografien auf dünnerem Papier mit geribbeltem Schnitt und auch schon modernere Farbfotografien mit einem grässlichen Farbton. Manche Fotografien davon waren Dubletten aus dem Album und der Rest waren wohl die als unwichtig eingestuften Fotografien. Ich glaube aber eher die moderneren Fotografien, zu denen meine Großmutter weniger Bezug hatte, denn darunter waren auch Fotografien, die sie wohl zu wichtigen Anlässen wie Weihnachten von uns Enkel geschenkt bekommen hatte (immer ähnlich). Die Fotografien aus dem Album kannten wir Enkel irgendwann alle. Wir wussten, das war der Großvater, das die Großmutter und das unsere Mutter, die uns zwar auf den Bildern immer etwas fremd vorkam, aber sie war es (so sagte man es).

Ich hatte an fast allen Bildern aus dem Album Interesse, zeigten die Bilder doch eine vergangene Epoche. Alle Personen waren klar und deutlich abgebildet, fast alle Frauen und Mädchen hatten wunderschöne Kleider und Hüte. Meine Großmutter war ein wirklich hübsches Mädchen, auf dem Bild sah sie aus wie auf einer Modeschau (falls es früher so etwas gab). Sie trugen Kleider, wie man es eigentlich nur aus alten Filmen bzw. Dokumentarfilmen kennt. Auf manchen Bildern waren Parks oder Straßenzüge zu erkennen, die mir, obwohl unter den Bildern oft handschriftlich die Straße angegeben wurde, unbekannt erschienen. Und so wie es kommen muss, kam es auch. Irgendwann muss jede Person von uns gehen. Ich ließ also ohne mir Gedanken zu machen Reproduktionen von den Fotos des Fotoalbums für mich und meine Geschwister anfertigen. Ich war von den Reproduktionen regelrecht enttäuscht. Im nach hinein sah ich, fast alle Fotografien aus dem Album hatten auf irgend einer Art und Weise einen Defekt. Fast alle Bilder im Album hatten irgendwo eine Bruchstelle, einen Kratzer, Fingerabdrücke usw. es waren Zeichen eines mechanischen Verschleißes, der den Bildern in einem Album eigen ist. Des weiteren alle dunklen Stellen der alten Bilder glänzten bläulich. Nur wenn man die Bilder oberflächlich betrachtete, war alles in Ordnung.

Jede durchgeführte Reproduktion brachte Probleme mit sich, denn alle Flächen, die sich bläulich verfärbt hatten, waren einfach nur schwarz, der feine dunkle Kontrast war verschwunden, war wegoxidiert. Wobei noch hinzu kommt, jede Reproduktion, durchgeführt durch eine Fachkraft eines Fachgeschäftes, hatte einen extrem schlechten Kontrast (eine Bandbreite von Grau nach Dunkelgrau). Ich sah es den Bildern an, bei einem eventuellen nächsten Kopiervorgang, ohne Original, dürfte das Ergebnis noch erschreckender sein. Ich stellte also fest, dass fast alle Fachgeschäfte einen Fotokopierer (mit Fotoqualität!) besitzen, der die Fotos innerhalb von Sekunden für einen erschwinglichen Preis kopiert (aber dafür schlecht). Früher wurden die Bilder abfotografiert und die anschließend entwickelten Negative und Positive hatten eine wesentlich bessere Qualität. Vor allem lässt sich das Negativ bei richtiger Lagerung hunderte von Jahren ohne Qualitätsverlust lagern.

Ein weiteres Problem stellte sich ein, es offenbarte sich erst einige Jahre später, fast alle reproduzierten Fotografien verblassten bzw. der Farbton veränderte sich. Heute, wenn man in ein Fotofachgeschäft geht um sich ein Negativ plus Foto reproduzieren zu lassen, wird man wie ein Außerirdischer oder einer der nicht mehr in diese Welt passt betrachtet. Was meiner Großmutter nicht auffallen konnte, war der Umstand, dass sich die Fotografien in ihrem Album kontinuierlich verschlechterten bzw. veränderten, denn sie schaute sich regelmäßig die Bilder an, um sich an längst vergangene Zeiten zu erinnern, also ein schleichender Prozess. Wenn dieser Verschlechterungsprozess schlagartig stattgefunden hätte, wäre es ihr möglicherweise aufgefallen. Vielleicht wenn sie z. B. ihr Hochzeitsbild direkt nach ihrer Heirat und im hohen respektablen Alter hätte vergleichen können.

Zu den reproduzierten Fotografien kam noch ein ungeahntes Problem hinzu, ich war regelrecht erstaunt, jetzt nachdem ich die Namen der Personen in die Bildfußnoten einsetzen und der Frage nachgehen wollte in welchem Verhältnis die Personen zu meinen Großeltern standen. Außer Großeltern und Eltern und so manchen mir gut bekannten Tanten hatte ich plötzlich unangenehm viele unbekannte Personen in meinen "Familienbildern". Mir blieb nichts anderes über als mich durch die Verwandtschaft zu fragen. Bei manchen weitläufigen Verwandten aus der Vergangenheit gerieten sich meine Tanten regelrecht "in die Haare", natürlich nur um mir zu helfen. Wahrscheinlich habe ich sie auch in ihrem Stolz erwischt sich in der "Verwandtschaft" auszukennen.
Bei manchen der Bilder konnte keine Person ermittelt werden und anderen bestand der Verdacht auf eventueller Bekanntschaft, was sich als wirklich schade erwies, waren doch wirklich schone Fotografien darunter. Aber eine mutmaßliche "Benamung" ist das letzte was ein Familienforscher durchführen darf. Der neue unter Umständen falsche Name wird von den nächsten Generationen gedankenlos übernommen, er wird festgeschrieben. Der Inhalt des Schuhkartons erwies sich in den Punkten der mechanischen Betrachtung als besser. Dadurch das die Bildnisse aus der Vergangenheit fast ihr Leben lang im Karton lagen, quasi vergessen worden sind, gab es kaum einen mechanischen Verschleiß, auch die "festgebrannten" Fingerabdrücke waren selten (Fotografien müssen immer mit Handschuhen angefaßt werden). Eine leichte Oxidation der Fotografienoberschicht war vorhanden, aber hielt sich im Rahmen (der Schuhkarton stand in einem relativ trockenen Raum). Nur bei einer Verwandten (nicht meine Großmutter) hatte ich mal ein Bild mit Pilzbefall gefunden, Vorsicht!, sofort aussondern, separieren, damit der Pilzbefall nicht die anderen Bilder erfaßt (Pilzbefall ist ansteckend, besonders bei Bildern).

Das einzige wirklich große Problem war herauszufinden "wer ist wer" und "wer ist wo" auf den Bildern. In der "Kindersprache" auf Französisch "Kikeou" (qui est où).

 

 

 

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